Mittwoch, 11. November 2015

Die Kilometerfresser


Der Tag begann so grau wie der gestrige aufgehört hatte und so ist wieder Regenoutfit angesagt. In der ersten Apotheke kaufte ich einen neuen Spray gegen Bettwanzen, denn ehrlich gesagt bin ich seit Leon hysterisch und sprühe jeden Abend jedes Bett und meinen Schlafsack ein. Als ich rauskam schüttet es. Sollte mich das nach dem vielen Regen in den letzten Tagen erschüttern? Ich ließ mir den Optimismus nicht nehmen und zog los. Thomas lief mit und musste motiviert werden. Er schimpfte wie ein Bierkutscher und mein Erzieher-Gen kam durch. Er ist ein wirklich sympathischer Typ, aber fluchen kann ich nicht haben. Er bemüht sich sichtlich. Der Regen wurde nicht weniger und so kehrten wir in Camponaraya zu einer Weinprobe ein. Etwas angetrocknet ging es wieder ins Nass und ich konnte die Schönheit des Herbstes in dieser mit Wald bewachsenen hügligen Gegend nur erahnen. Überall sind Weinberge dazwischen und das Laub hat die totale Färbung von goldgelb zu rostbraun und tiefweinrot. Aber alles ist nass und die Feuchtigkeit hängt über der Erde. So nutzten wir jede Gelegenheit zur Einkehr und in Cacabelos ist ein wirklich uriger Landgasthof. Mit dunklem Holzgebälk, offenen Kamin und gemütlichen Sesseln. In der Hoffnung, dass der Regen aufhört, machten wir Mittagspause mit Brotzeit und Weinprobe. Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber dies ist nun der erste komplette Regentag nach 123 Tagen. Ich laufe 8 Stunden im Regen nach Villafranca del Bierzo. Es ist nicht so, dass ich deshalb schlechte Laune hätte, oder mir das Laufen schwer fällt. Es ist nur das wissen, dass es hier wunderschön wäre wenn... und mich in der Herberge zig nasse Pilger in einem Zimmer mit zig nassen Klamotten erwarten und die Luft dann wieder extrem ist. Also entschied ich mich für die letzte Herberge im Ort ( in der Hoffnung, dass die Ewig- Krawallmacher in der ersten Herberge einfallen), die kleiner ist und u.a.Doppelzimmer anbietet. Das gönnte ich mir heute, denn so kann ich die Frischluft regulieren und habe einen Heizkörper für mich allein, um meine Sachen zu trocknen.
Mit Thomas aß ich zusammen zu Abend und so ging der nasseste Pilgertag zu Ende.


Mein 125. Tag brach an und die Sonne durch! Endlich! Es lief sich einfach besser in trockenen Klamotten, auch wenn der Rucksack bei Regenwetter leichter ist. Die Etappe hatte es in sich. Die ersten 20 km gingen stetig bergan an verschieden stark befahrenen Straßen entlang. Dann konnten wir endlich auf einen richtigen Wanderweg abbiegen. In einem kleinen Dorf machten Thomas und ich in einer Pulperia Mittagspause und aßen Pulpo, der sich eine halbe Stunde später als " Pupso" entpuppte und mir Magenschmerzen verursachte. Er war wohl zu fett für meinen noch angeschlagenen Magen.
Danach ging es 8 km steil bergan und Thomas verfluchte meine Fitness. Er kam kaum hinterher und war völlig nass geschwitzt. Also gab es vor Zieleinlauf noch ein Boxenstopp in einer Bar. Die Landschaft war wunderbar herbstlich und wir schauten in zig Täler. Einfach schön. In O Cebteio kommen wir 1/2 Stunde vor Sonnenuntergang an und der war dramatisch faszinierend. Rote Wolken rasten über die Berge und die Sonne verschwand am Horizont.
Später gab  es einen einzigartigen Sternenhimmel zum " Anfassen". Der Ort ist auf 1400 m Höhe und besteht aus lauter schiefergedeckten Steinhäusern, welche alle Zimmer vermieten. Die Preise sind auch dem Himmel nah und ich zog den Schnarchsaal mit 32 Schläfern vor. So konnte ich davon ausgehen, dass ich den Sonnenaufgang nicht verschlafe.

Die Nacht war wie erwartet unruhig. Immer ging einer rein oder raus und es war interessant, was 32 Leute für unterschiedliche Geräusche machten: schnarchen in verschiedenen Oktaven, pfeifen,seufzen, stöhnen... So stand ich schon 6.30 Uhr auf, packte meinen Rucksack und lief mit Stirnlampe im Dunkel los. Nebelschwaden zogen über den Berg und ich lief mutig an der Landstraße entlang. Aber so früh fuhr noch niemand zur Arbeit. In Lineares begann der Sonnenaufgang und als ich auf dem Pass von San Roque (1220 m) war bot sich mir eine einzigartige, kaum beschreibbare Farbexplosion aus goldenen Strahlen, purpurroten Wolken und azurblauen Himmel.So gigantisch schön! Ich lief forschen Schrittes weiter und überquerte den Alto do Polo (1337m), den höchsten Punkt des gallizischen Teils des Jakobsweges. Die Sonne wärmte allmählich richtig, sodass ich in kurzen Klamotten wandern konnte. In Filloval aß ich erst einmal Frühstück, bevor es weiter nach Samos ging. Der Weg war wunderschön und die Bergblicke waren grandios. Ich kam durch kleine galizische Dörfer und diese sind von erschreckender Armut gekennzeichnet. Kaputte Häuser, davon die Hälfte unbewohnt, teilweise unbefestigte Straßen, Kuhkot verschmutzt und die Gülle läuft in der Mitte entlang. Die Bewohner gehen nur in Gummistiefeln durch den Schmutz und es stinkt teilweise zum Himmel. Jede Menge Hunde streunen apathisch rum und nehmen von nichts und niemand Notitz. Gott sei Dank! Wenn ich freundlich grüßte kam nichts zurück und alle sehen ein bisschen mürrisch aus. Ein alter Bauer trieb seine Kühe auf die Weide und die sahen auch mager aus. Am Ende taumelte eine total verschmutzte und ausgemergelte Kuh hinterher und der Anblick war grausam. Warum versagt man ihr den Gnadenschuss?
14 Uhr war ich schon nach 33 km in Samos, wo überall Siesta war. Ich ging zur privaten Herberge und bekam ein Doppelzimmer. Die kirchliche Herberge hat 74!!! Betten in einem Raum und ist sehr herunter gekommen. Später wurde meine Herberge noch voll und ich bekam eine junge Frau aufs Zimmer. In der kirchlichen Herberge liefen Mäuse durch, sodass einige Pilger es vorzogen umzuziehen.
Nachmittags kaufte ich etwas Proviant für den nächsten Tag und ging zum Kloster, um es zu besichtigen. Pilger bekommen Rabatt und für 3€ konnte ich an der Führung teilnehmen. Ich war erstaunt keinen anderen Pilger zu entdecken. Das Benedektinerkloster ist riesig und hat zwei sehr schöne und verschiedene Kreuzgänge. Der obere Flur wurde von Künstlern ringsrum mit kirchlichen Geschichten bemalt. In der Sakristei gibt es ein wundervoll verziertes Doppelwaschbecken, an dem den Gemeindemitgliedern rituell die Hände gewaschen wurden. Die Kirche ist Barock und laut Prospekt sehr schlicht, aber ich fand sie zu goldlastig. Wer braucht soviele Altäre?
Abends gehe ich zur heiligen Messe.Die ist mehrheitlich von Pilgern besucht. Das Verhältnis zu dern Einheimischen liegt bei 16:4!
Abends sitze ich dann mal wieder beim Pilgermenü in großer internationaler Runde.

Morgens um 7 Uhr stand ich auf und lief nach Sarria, einer etwas größeren Kleinstadt. Sie lockt mit Tapasbars und jede Menge Übernachtungsmöglichkeiten. Ein Pizzabar verführt mit dem Novemberspecial: una cama, una pizza 15€! Ich war aber gerade erst warm gelaufen, die Sonne schien herrlich und der Himmel war wolkenlos. Also lief ich weiter einen bizarren, schönen Weg der von alten, verwitterten Steinmauern gesäumt war und wahrscheinlich schon  in uralten Zeiten Pilger vorwärts gebracht hat. Er ging teilweise steil bergan und sehr viel steil bergab. Regelmäßig kamen die kleinen Dörfchen und als ich eine Bar sah, machte ich Mittsgspause und traf wieder bekannte Gesichter. Mein Bett stand diesmal in Portomarin (89 km vor Santiago), in einer freundlichen, privaten Herberge.
Ich habe ja schon oft von der Vielfältigkeit der Pilger erzählt und neben den " Ballermann-Pilgern" sind mir die " Edding-Pilger" die Unangemehmsten. Muss jeder seinen Namen oder seine super Sprüche, wie " XYZ war hier" mit Edding an alle Schilder oder Pilgerfiguren schreiben? Manche schleppen sogar eine Sprühdose mit sich rum!!

Aber ich habe auch den eleganten Pilger entdeckt! Ein Spanier mit leicht grau durchzogenen, schütternem, gegeelten, welligen Haar, läuft konsequent in weißer Hose, farbigen Hemd und seidenem Halstuch den Weg und ist ein echter Hingucker. Ich habe ihn am Trockner getroffen und er hat tatsächlich 3 weiße Hosen dabei! Ola la, alle Achtung!
Dann gibt es noch die Supersportskanone aus Polen. Ein Medizinstudent der aussieht wie ein Modell, macht morgens mit seinem Rucksack auf dem Rücken Liegestütze und schafft jeden Tag mehr.
Der Akrobatikpilger ist mir auch begegnet. Er balancierte seinen Pilgerstab meterweit auf einem Finger!
Wir sind schon ein lustiges Volk- wir Pilger dieser Welt.
Dann gibt es noch die zu Herzen gehenden Camino- Liebesgeschichten. So trafen sich eine in London lebende Koreanerin und ein in Frankreich lebender Mexikaner und " folling in love". Sie gehen Händchenhaltend den Weg und sehen so glücklich aus. Cappi, die Amerikanerin, wurde von ihrem Freund auf dem Camino überrascht. Er ist extra aus den Staaten geflogen und hat ihr einen Antrag gemacht. Nun blitzt ein kleiner Diamant an ihrer Hand und sie kann es garnicht fassen. Das sind die zwei Geschichten, die ich gesehen habe, aber es werden noch mehr erzählt. Einfach bezaubernd.
Den nächsten Morgen verschlief ich und wurde erst wach, als alle rumorten. Es war 7.30 Uhr und neblig. Also noch gefrühstückt und dann im Pulk los. Das war ich ja garnicht mehr gewohnt und es machte nicht wirklich Spass. Hinter mir und vor mir Gequassel am Morgen. Ich brauchte eine Stunde, um mich frei zu laufen und in meinen Rhytmus zu kommen. Aber die erste Bar am Weg zerreißt ja zum Glück das Feld.
Als der Nebel sich lichtete, kam die Sonne raus und der Tag wurde wieder wunderbar.
An einem alten Pilgerkreuz am Weg machte ich Rast, um danach mal wieder einen kleinen Umweg zu gehen und das romanische Kirchlein in Vilar de Dones anzuschauen. Ja der Abstecher hatte sich wirklich gelohnt! Ganz allein auf einer idyllischen, mit alten Buchen gesäumten Landstraße. Die Kirche ist ein Kleinod und strahlt soviel " Erfahrung" aus. Ich hatte die Telefonnummer von Jesus und rief ihn an, mit der Bitte mir die Kirche aufzuschließen. Fünf Minuten später war er da, ließ mich ein und erzählte mir mit Inbrunst zu jedem Steinornament seine Bedeutung. Ich verstand nur ein Drittel, aber das machte nichts. Jesus ist 89 Jahre alt und total herzlich.

Danach ging es zurück auf den Weg und ich überholte einige Pilger vom Morgen. In Palas de Rei kam ich am frühen Nachmittag an und bezog wieder eine private Herberge. Die sind zwar "teurer" (10€), aber sauberer, kleinteiliger in der Bettenzahl pro Zimmer ( heute 7 und ich habe das Einzelbett, juhu)  und haben Wifi.
Das ist es voll wert. Diesmal betreiben es zwei junge Spanierinnen, die auf Orange stehen. Orange an den Wänden, orange Möbel und ein oranger Stempel! Der erste auf dem gesamten Weg.
Abends unterhielt ich mich das erste Mal länger mit Martina aus Ravensburg. Sie ist Gymnasiallehrerin im Sabbatjahr und überdenkt gerade ihre Lebenslinien. Sie startete in Le Puy und hat auch viel erlebt.
Die Nacht war frostig kalt und so zog ich das erstemal meinen Schlafsack über beide Ohren, um mir am offenen Fenster ( inzwischen finde ich die strategisch günstigen Betten) nicht eine Erkältung einzufangen. Als ich morgens los lief waren die Wiesen mit Rauhreif überzogen. Ich hatte Gänsehaut, denn noch immer starte ich in kurzen Hosen. Aber kaum kam die Sonne hinter dem Berg hervor fing der magische Morgen aus funkelnden Wassertropfen, Nebelschwaden, Licht und Schatten an. Es wurde wieder richtig warm und ich konnte die Jacke verbannen. Der Weg ging bergauf und sobald ich oben war wieder bergab. Die Dörfer sind teilweise so klein, dass ich sie nicht in meinem Wanderführer fand. Meine Gedanken kreisten um die letzte " Schnaps-Kilometer- Zahl", die ich heute absolvieren wollte. Wo mag der 3333km liegen? An was für einem Ort? Im Wald, in einem Ort? Auf jeden Fall wollte ich an diesem Ort eine denkwürdige Pause mit Schoki, O- Saft, Kuchen und Obst einlegen. Ja und dann schlug wieder der himmlische Zufall zu! Genau an einem alten Wegkreuz vor einer kleinen, romamischen Kirche in dem Örtchen Santa Maria lief ich Kilometer 3333! Na wenn das kein göttlicher Fingerzeig war! Ich schrieb ein Schild, befestigte es und bat einen Spanier Fotos zu machen. Ich schenkte ihm einen Kuchen und bedankte mich. Er gratulierte mir herzlich. Ich pausierte und ging gedanklich ein Stück den Weg zurück. Als ich aufbrach ( ich entfernte das Schild, ich bin ja kein Eddingpilger) öffnete just ein Freiwilliger die Kirche und so konnte ich ein dickes Licht entzünden und Gott für diesem Tag, diesen Weg und mein schönes Leben danken! Ich erhielt einen Stempel in meine Credenzial! Wenn das nicht magisch ist!




Ich lief beglückt weiter und fand 10 km später ein " Deutsches Kaffee". Der Besitzer hatte ein paar Jahre in Deutschland gelebt und dass war der Grund für den Namen. Es gab keinen Streuselkuchen! Schade! Dafür kollidierten zwei Fliegen über meinem Kaffee und landeten darin! Rettung kam per Löffel!

Unterwegs traf ich einen Koreaner, der tatsächlich vom Weg gefallen ist. Ich helfe ihm wieder hoch ( er war einen halben Meter tief gefallen) und er ist zum Glück unverletzt. Als Dank möchte er ein Foto mit mir und bittet einen Brasilianer. Dieser will im Gegenzug ein Selfi und so bin ich nun fast auf  allen Kontinenten im Fotoarchiv! Das ist doch ein verrückter Tag.Doch dass Verrückteste ist.... nur noch 41 km bis Santiago!!!!  (2 Etappen)

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